Liegenbleiben statt Aufstehen

Krankenhausbilder nach Transplantation
September 1996, am Ende der Krankenhauszeit

„Hinfallen, Aufstehen, Krone richten!“ – Diesen Satz hast du bestimmt schon mal gelesen. Im neuen Buch von Stennie und Elena Schulte habe ich etwas sehr interessantes gelesen. Es ging darum, dass dieser Satz „Hinfallen, Aufstehen, Krone richten“ eigentlich keine erstrebenswerte Haltung ist. Sie stellen die Frage, ob es nicht auch okay ist, mal eine Weile am Boden zu bleiben. Und behaupten, dass wir gerade dann Dinge lernen, wenn wir eine Weile nicht fähig sind, aufzustehen.

Buch als Deko "Ganz. Schön. Lebendig." von Elena Schulte und Stennie
„Ganz. Schön. Lebendig.“ von Elena Schulte und Stennie

Immer nur Aufstehen?

Diese Sätze haben mich berührt. Sie treffen ziemlich genau das, was ich fühle, aber mich häufig nicht zu sagen getraue. Es geht immer und immer wieder darum, weiterzumachen, sich nicht anzustellen, auf das Gute zu sehen, schnell aus den Fehlern zu lernen, produktiv zu sein, anderen nicht im Weg zu stehen (/liegen), ein gutes Bild abzugeben. Aber ehrlich gesagt kriege ich das nicht hin. Und ehrlich gesagt suhle ich mich auch mal ganz gerne in Selbstmitleid und bleibe ein bisschen liegen und zeige meine Wunden. Da bin ich nicht viel anders als mein kleiner Sohn, der jedem Besucher seine Schürfungen zeigt.

Liegenbleiben

Es gibt Dinge in meinem Leben, die sind nicht gut gelaufen. Und statt das zu bearbeiten, habe ich versucht, schnell aufzustehen, weiterzumachen, ja nicht hilfsbedürftig oder gar im Weg zu sein. Dabei hätte ich es eigentlich besser wissen müssen. Als ich vier Jahre alt war, hatte ich einen Verbrühungsunfall. Unsere Badewanne besaß einen Boiler. Man konnte nicht einfach 38°C warmes Wasser einlaufen lassen, sondern musste das Wasser erst in diesem Boiler anstellen (natürlich etwas heißer, denn kälter machen ging ja immer noch) und sobald er dann heißt war, konnte das Wasser aufgedreht werden. Weil es zu heiß war, wollte ich das kalte Wasser dazu aufdrehen, beugte mich über den Badewannenrand und fiel in das heiße Wasser. Weil ich noch Klamotten trug, wurde die Haut sehr tief verletzt.

Narben

Long story short: Ich hatte an 30% meines Körpers Verbrennungen dritten Grades. Es wurde viel Haut transplantiert und ich verbrachte drei Monate im Krankenhaus. Darauf folgten unzählige Stunden Physiotherapie und etliche Operationen im Nachhinein, da die vernarbte Haut nicht so gut mitwuchs, wie es gesunde Haut getan hätte. Außerdem musste mein Körper zweimal täglich eingecremt werden und ich trug einige Jahre einen Ganzkörperanzug, damit die Wunden möglichst flach abheilten. Noch heute gehe ich wöchentlich zur Physiotherapie, um die Narben behandeln zu lassen. Sie müssen weich bleiben, damit es nicht zu Fehlstellungen kommt.

Krankenhausbilder nach Transplantation
September 1996, am Ende der Krankenhauszeit

Kurzer Einschub

An dieser Stelle: Herzlichen Dank an meine liebe Mama und meinen lieben Papa, die all das mit mir gemacht haben. Es muss eine unglaubliche Belastung gewesen sein, die vielen Dinge zu organisieren, sich Zeit für all das zu nehmen, die Fahrten nach Kassel ins Krankenhaus zu machen und währenddessen die Geschehnisse zu verarbeiten und die restliche Familie zu versorgen.

Wenn ein Arzt heute meine Narben sieht und meine Geschichte hört, dann ist da immer ein großes Lächeln, ein: „Wow! Das ist aber toll geworden!“ Und das obwohl man natürlich jeden Quadratzentimeter Narbe noch sehen kann und trotz der Narbenstränge, die mir manchmal Sorgen bereiten.

Was, wenn Aufstehen nicht die einzige Möglichkeit ist?

Was ich mit dieser Geschichte sagen möchte, ist: Wenn heftige Dinge passieren, dann hat das Konsequenzen. Dann kann man nicht einfach wieder aufstehen, Krone richten, weitergehen, sondern dann braucht es Zeit, Energie, Fürsorge, Hilfe, ….. damit Besserung eintritt. Und vielleicht auch einen dreimonatigen Krankenhausaufenthalt, gefolgt von lebenslanger Physiotherapie.

Und genauso, wie meine Narben nie wieder verschwinden werden, so sind auch all die anderen Dinge, die nicht so glücklich gelaufen sind, Teil meines Lebens und noch da. Ich kann sie alle an Gott abgeben und er kann auch heilen, aber ich kann aus Erfahrung sagen, dass sich vernarbte Haut anders verhält als gesunde, unversehrte Haut. Sie braucht immer wieder Aufmerksamkeit, um weich und elastisch zu bleiben. Wenn ich nun einfach so tun würde, als wäre mein Körper völlig gesund, dann würde ich innerhalb weniger Monate merken, dass sich meine Haltung verschlechtern würde. Vermutlich würde ich recht bald etwas schief laufen, bekäme Rücken- und Gelenkschmerzen und andere Symptome.

Fahrradfahren im Winter, Nebel

Narbenpflege

Ich glaube, dass es mit anderen Wunden ähnlich ist. Natürlich wird nicht aus jeder Abschürfung etwas Bleibendes, aber die wirklich tiefen Blessuren brauchen auch später immer mal wieder unsere Aufmerksamkeit.

Was, wenn die Frage in Psalm 42: „Was betrübst du dich meine Seele und bist so unruhig in mir?“ (Vers 12), nicht einfach eine rhetorische ist? Was, wenn es wirklich sinnvoll ist, nach einer Antwort zu suchen, statt darin nur eine Aufforderung zur Selbstoptimierung zu sehen?

Der ganze Vers lautet in der Basisbibel-Übersetzung folgendermaßen:

Was bist du so bedrückt, meine SeeleWarum bist du so aufgewühlt? Halte doch Ausschau nach Gott! Denn bald werde ich ihm wieder danken. Wenn ich nur sein Angesicht schauehat mir mein Gott schon geholfen.“

Ehrliche Begegnung

Lange Zeit habe ich diesen Vers so verstanden, dass ich nach dem Hinfallen sofort Aufstehen soll, meine Krone zu richten habe und dann weitergehen soll. Schließlich bin ich sein Königskind und Gott wird mir schon helfen und alles halb so wild, er wird es schon richten. Aber irgendwann war ich einfach nur krank und traurig. Und ich wusste nicht, warum eigentlich. Da habe ich in den Geschichten der Bibel entdeckt, wie Jesus mit den Menschen redet. Dass er nachfragt, dass er sich für die Geschichten der Menschen interessiert, dass er nicht nur schnell, schnell heilt, sondern nach echten Begegnungen sucht. Damit Menschen Veränderung erfahren, innerlich und äußerlich.

Problemorientiert?

Trotz allem bin ich ein lösungsorientierter Mensch. Aber was, wenn manchmal die Lösung ist, sich das Problem mal genauer anzuschauen? Was, wenn es mir hilft, die Zukunft besser zu leben, wenn ich mit Gott (und vielleicht auch einer vertrauensvollen Person) noch mal über ein paar Wunden in meinem Leben spreche, sie mir genauer anschaue und vielleicht nochmal aufschneide, weil sich ein Splitter darin befindet, der sich immer wieder entzündet.

So, wie beim Fuß meines Mannes, der sich ständig aufs Neue entzündet, weil da irgendwas mit dem Nagel nicht stimmt. Dass es nach einer fachgerechten OP besser wäre, das steht außer Frage. Aber sie würde Aufwand, Zeit, Kraft und ein paar Schmerzen bedeuten. Und so frage ich mich auch für mein Leben immer wieder: Wo lohnt sich die OP? Welche seelischen Wunden bedürften meiner Aufmerksamkeit? Warum ist da manchmal diese Traurigkeit und hängt sie vielleicht mit manchem, was ich erlebt habe, zusammen? Und wie könnte Narbenpflege bei seelischen Wunden aussehen?

Der Herr, dein Arzt

Bei all den Fragen weiß ich doch zwei Dinge: Erstens ist es immer besser, wenn man sich regelmäßig um etwas kümmert, statt erst dann, wenn es gar nicht mehr anders geht. Und zweitens, dass Gott versprochen hat: „Ich bin der Herr, dein Arzt“ (2.Mose 15,26). Damit ist – meines Erachtens nach – nicht gemeint, dass wir die Ärzte auf dieser Welt für unser körperliches und seelisches Wohlbefinden nicht brauchen würden (in dem Fall wäre ich längst nicht mehr auf ebendieser), sondern dass er alles über das Krank- und Gesundsein weiß. Dass er auch weiß, wann und wie man von einem zum anderen kommt und warum manches auf dieser Welt nicht (vollständig) heilt.

Was ist dein Motto? „Hinfallen, Krone richten, weitermachen?“ oder „Liegenbleiben“ oder etwas ganz anderes? Schreib doch mal in die Kommentare, was du zu dem Thema denkst und welche Erfahrungen du mit Narben gemacht hast.

4 thoughts on “Liegenbleiben statt Aufstehen”

  1. Oh ja! Und die Verbundenheit, die man am Boden mit Gott hat und vielleicht auch mit manch einem Freund, ist unbezahlbar. Schöne Gedanken, Judith. Danke. 🙂

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