Brief an Christin*

Licht am Ende des Tunnels

Liebe Christin*,

weißt du noch, als wir vor ein paar Jahren zusammen spazieren gegangen sind? Du hattest etwas auf dem Herzen, das du mir sagen wolltest. Ich wusste, dass es dir schon seit einiger Zeit nicht so gut geht. Wir verabredeten uns an einem Parkplatz, von wo aus man den Berg durch ein Waldstück hoch zu einem Aussichtspunkt gehen konnte.

Last

Ich hatte das Baby in der Trage vor meinen Bauch geschnallt. Es schlief, beruhigt durch die Nähe zu meinem Herzen, das Hören von Stimmen und die ausreichend ungleichmäßigen, aber stetigen Bewegungen meiner Schritte. Wir gingen in das Waldstück hinein, ohne zu wissen, wo uns der Weg hinführen würde.

Es kostete mich Überwindung, das Gespräch mit dir wirklich zu beginnen – das weiß ich noch. Wir gingen zuerst ein paar Schritte schweigend, bevor ich dich fragte, wie es dir geht und was du in den letzten Wochen durchlebt hattest. Du hast um Worte gerungen. Je mehr du erzähltest, desto mehr zog sich mein Herz zusammen. Ein paar Rückfragen stellte ich, konnte das Leid, das du ertragen hattest, wie eine Last auf meinen Schultern spüren. Meine Schritte wurden langsamer. Mir fehlten nicht nur die Worte, sondern auch die Luft zum Atmen. Der Berg war so schwer, die Last so hoch.

Rast

Da: eine Bank. „Ich muss mich kurz hinsetzen“, dachte ich. Ausruhen. Nach Worten, nach Ermutigung suchend, blieben wir eine Weile dort. Mein Gebet um weise Worte schien nicht weiter zu kommen, als bis zu den Baumwipfeln, die uns in der Dunkelheit unserer Gedanken einzuengen schienen. Was soll man einer jungen Frau sagen, die so etwas erleben musste? Ich kam mir dumm und wenig hilfreich vor.

Der Auftrag

An dieses Erlebnis mit dir musste ich heute denken, als ich in der Bibel gelesen habe. Gerade ist der Geschichtsschreiber „Esra“ dran. Die Juden waren, nachdem sie ungehorsam Gott gegenüber waren, in ein anderes Land verschleppt worden. Alles, was ihnen heilig gewesen war, lag nun in Trümmern. Doch dann kam mit König Kyros die Kehrtwende: Auf unerklärliche Weise (Gott hatte seine Hände im Spiel!) beauftragte er die Juden, wieder zurück in ihr Land zu gehen und dort den Tempel wieder aufzubauen. Die Nachbarn sollten sie sogar noch mit Proviant, Silber und Gold ausstatten (vgl. Bibel: Esra 1,1-4).

Entmutigung

Dort angekommen, begannen sie zwar mit den Arbeiten, feierten auch ein Fest, aber dann kamen die ersten Anfeindungen. Zunächst wurde dem noch widersprochen. Man erinnerte an den klaren Auftrag, den König Kyros gegeben hatte. Als sie dann aber immer wieder entmutigt wurden, kam es zum Stillstand auf der Baustelle. Jahre vergingen, ohne, dass weiter gebaut wurde. Dabei musst du wissen: Für die Juden war der Tempel nicht nur irgendein Gebäude, sondern der Ort, an dem Gott versprochen hatte, zu wohnen. Also: Kein Tempel = keine Anwesenheit Gottes unter dem Volk (zumindest nicht „sichtbar“).

Ein paar Schritte weiter

Entmutigt hatte ich mich auch gefühlt bei unserem Gespräch damals. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass dir unser Treffen in irgendeiner Weise gut tun würde. Zum Glück sind wir dann von dieser Bank aus doch noch ein Stück weiter nach oben gelaufen. Wenige Meter weiter traten wir plötzlich aus dem Waldstück heraus auf eine Lichtung. Die Sonne kitzelte unsere Wangen, ließ uns lächeln. Statt der bedrohlichen Dunkelheit des Waldes sahen wir nun Weite und Helligkeit und irgendwie auch Erhabenheit. An diesen Moment musste ich noch häufig denken: Wir waren nur wenige Kurven von dieser wunderschönen Stelle entfernt gewesen. Hätten wir gewusst, dass es nicht mehr weit ist, hätten wir doch nicht in der Dunkelheit gerastet.

Weite

Gott sei Dank sind wir noch weitergelaufen, wenn auch nicht sofort. Mich erinnert unser Erlebnis immer wieder daran, dass wir trotz Entmutigung, trotz des Gefühls, dass die Kräfte nicht ausreichen, nicht aufhören sollten, weiterzugehen, bis wir die „Aufgabe erfüllt“ haben (was auch immer das sein mag). Gott hat so viel Großes und Schönes mit uns vor. Er will uns in die Weite führen, uns die Welt mit seinen Augen sehen lassen. Dabei will er uns an Orte führen, an denen wir von oben auf unser Problem schauen können, um es später von einer anderen Seite anpacken zu können und damit auch besser damit umgehen zu können. In der Vogelperspektive ist es nur ein kleines Waldstück gewesen, das die sonnendurchflutete Lichtung umgibt.

Ich weiß nicht genau, wie deine Geschichte weitergegangen ist, liebe Christin. Herzliche Einladung, mal wieder spazieren zu gehen! Du bist immer wieder in meinen Gebeten und ich hoffe, dass du das gespürt hast.

#SchönesImHerzen

Fröhlich gemacht

Die Geschichte in Esra ging übrigens so weiter, dass Propheten (also Leute, die einen engen Draht zu Gott haben), die führenden Persönlichkeiten unter den Juden ermutigt haben, weiterzumachen. Daraufhin schrieben sie einen Brief, in dem sie an ihren Auftrag erinnerten, den sie von König Kyros bekommen hatten. Der Fall wurde offiziell geprüft und sie durften weiterbauen, gestärkt von den irdischen Machthabern und ihrem Gott im Himmel. Schnell war der Bau vollendet und der Tempel wurde mit einem großen Fest eingeweiht. „(…) (D)er HERR hatte sie fröhlich gemacht (…)“ (Esra 6,22)

Nur noch ein paar Schritte?

Liebe Christin, warum schreibe ich dir? Heute ließ es mich nicht los, ich habe darüber nachgedacht: Ich gehe oft los, bin dann aber von den Anstrengungen oder Aufgaben entmutigt, fühle mich, als ob ich im dunklen Wald stehe, als würden Erlebnisse mich zerreißen. Aber dann denke ich an unseren Spaziergang und dass es vielleicht nur noch zwei Kurven sind, bis ich auf der Lichtung stehe und sich all die Anstrengung gelohnt hat, weil es dort so wunderschön und hell ist. Dort, wo die Sonne meine Wangen streichelt und ein Lächeln aus meinem Gesicht herauskitzelt. Die Schritte in der Dunkelheit bleiben schwer und anstrengend. Aber wenn ich weiß, was auf mich wartet, gibt mir die Hoffnung Kraft, durchzuhalten. Und jemand an meiner Seite sicherlich auch. Wie geht es dir mit solchen Situationen heute?

Ich würde mich freuen, von dir zu hören!

Herzliche Grüße von

Judith

*Name geändert

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