Letztes Jahr war ich im November in Berlin, ganz alleine. Die Reise stand im Zeichen des 07. Oktobers. Man spürte deutliche Auswirkungen des Terroranschlags auf die Israeliten. Ein Grund mehr, sich das Holocaust-Mahnmal (davon habe ich hier schon berichtet: Berlin-Tagebuch #1) und das Jüdische Museum einmal genauer anzuschauen. Wie es mir dabei erging, kannst du nun hier im zweiten Teil nachlesen.
Aufbruch
Früh aufgewacht, ausgeruht, voller Energie. Leise, leise fertig gemacht in aller Ruhe, dann los zum Jüdischen Museum. Unterwegs fahre ich an der Gedenkstätte Berliner Mauer vorbei. Ob ich es schaffe, dort später noch mal einen Abstecher zu machen? Vielleicht. Ich stresse mich mit diesem Gedanken nicht. Als ich aus der U-Bahn komme, sehe ich schon die Schilder zum Checkpoint Charly. Da muss ich natürlich jetzt erstmal gucken. Das alte Schild, das symbolhaft für die Trennung von Ost und West steht, das kleine Grenzhäuschen. Mauerreste in einem offenen Museumshof. Wie viele bei dem Versuch gestorben sind, die Mauer zu überwinden. Wie sie von der Westseite mit Graffiti besprüht wurde, wie sie nach dem Mauerfall von etlichen Zivilisten mit Hammer und Meisel Stück für Stück und später immer weiter abgebaut wurde. Wie dann Bebauung auf der ehemaligen Grenze stattgefunden hat. Meine Gedanken schweifen von hier nach da. Von Mitfühlen wegen zerrissener Familien und Todesopfern über Hoffnung, weil der friedliche Protest am Ende wirksam war. Und der Wunsch, dass dieser Frieden auch in anderen Ländern zum Ausdruck kommt.
Jüdisches Museum
Ich gehe weiter, folge nun den Schildern zum Jüdischen Museum. Zuerst finde ich den Eingang nicht, nur den Lesesaal, der aber zur Zeit geschlossen ist. Ich frage einen der Polizisten, die überall entlangschleichen, beobachtend, abwartend, auf das Schlimmste gefasst, aber entspannt und ruhig. Lächelnd zeigt er auf die gegenüberliegende Straßenseite. Natürlich! Dort hängen auch Fahnen und man kommt durch eine alte Türe in ein schmuckes, altes Gebäude. Ich hatte es nicht sehen können, weil die Sonne genau über dem Museum stand und ich geblendet war. Doch nun bin ich da. Werde freundlich an der Türe begrüßt, bekomme ein paar Tipps zur Orientierung, bevor ich eintauche in ein architektonisches Meisterwerk. Einen Audioguide besorge ich mir noch, kann ja nicht schaden. Es geht im Untergeschoss los. Keine rechten Winkel, stattdessen Gänge, die sich in spitzen Winkeln kreuzen. Eine Musik- und Videoinstallation, die mich beeindruckt, die ich erst zu verstehe beginne, als ich länger dort verweile. Aber deren Botschaft mir noch schwer fällt in Worte zu fassen. Ein Schlagzeuger in einer Höhle, nur mit einer schwarzen Boxershorts bekleidet, eine Schlagzeugerin auf einem runden Glasplateau in der Luft, über Wildnis schwebend. Dann sehend, dass das Plateau genau so groß ist, dass es die Höhle verschließen könnte und dass die beiden einander so nahe sind, dass sie ihre Klänge gegenseitig wahrnehmen. Ich frage mich, wem es besser geht: Dem in der Höhle, der dort in einem sicheren Rahmen spielen kann, oder der auf dem Plateau, mit scheinbar maximaler Freiheit, mit Blick in die Weite aber der Wildnis ausgesetzt ist und vielleicht auch eingesperrt auf dem Plateau, zumindest solange es noch schwebt. Grübelnd gehe ich weiter.
Voids
Bevor ich es betrete, höre ich eine kurze Einführung dazu im Audioguide: Voids, leere Räume, Hallen, die das Nichtvorhandensein so vieler jüdischer Menschen spürbar machen sollen. Und tatsächlich: Als ich den leeren, dunklen Turm betrete, spüre ich es. Ich spüre die Schuld, die Trauer, das Erschrecken über die Gräueltaten. Ich spüre die Leere, höre dumpfe Geräusche. Spüre in mich rein, lasse die Gefühle zu. Bis die nächsten kommen, ich nicht mehr alleine bin, den Turm verlasse und mich wieder den Ausstellungsstücken in den Gängen widme. Gemälde, Fotoalben von schweren und unbeschwerten Zeiten, Gegenstände.
Garten
Dann ein Garten, der Garten des Exils. Hell sieht er aus. Aber gleichzeitig auch ein bisschen angsteinflösend. Ähnlich dem Mahnmal der ermordeten Juden, das ich gestern schon gesehen habe, stehen hier große Betonblöcke, doch viel höher als gestern und bepflanzt mit Platanen, sodass man unter einem grünen Dach durch die Blöcke geht. Die Blöcke sind nicht vertikal, sondern angeschrägt angebracht. Alles ist schief und schon bei dem Gedanken wird mir wieder ein bisschen schwindelig. Der Garten des Exils bedeutet ein bisschen Freiheit, aber auch die maximale Ungewissheit. Auch hier erlebe ich, was Architektur mit mir machen kann. Bin beeindruckt, fühle mit.
Dunkel
Langsam gehe ich der schwarzen Treppe entgegen. Sie zeigt keinerlei Hoffnung, nur, dass es immer so weitergeht. Von unten scheint es, als ob das Leid kein Ende nimmt. Ist man jedoch einmal an der Treppe angekommen, sieht man, dass der Schein trügt. Denn es wird immer heller und heller. Doch zuerst biege ich noch ab, vorbei an weiteren Videoinstallationen hin zu einem weiteren Void, dessen Geräusche man schon von weiter weg gehört hat. Es sind die Geräusche von Metall auf Metall in einem riesigen schwarzen Turm. „Herbstlaub“ heißt dieses Werk. Wie Herbstlaub liegen Metallscheiben in Form von leeren oder angsterfüllten Gesichtern auf dem Boden. Mich erschaudert der Anblick. So viele Menschen. So viele Tote. So wenig Respekt, alle da zusammen auf dem Boden. Manche gehen über die Gesichter. Das verursacht diese furchtbaren Klänge, die ein Klagelied auf den Mord an so vielen Menschen zu singen scheinen. Ich gehe auf die Gesichter zu, bringe es nicht fertig, auf ihnen herum zu laufen, wenngleich ich ein bisschen froh bin, dass andere es tun und damit dieses Klagelied zum Singen bringen. Tränen laufen mir die Wange hinunter. Bin tief erschüttert und lasse den Gefühlen freien Lauf. Irgendwann weiß ich, dass es Zeit ist, weiterzugehen.
Lichtblick
Am Ende der Treppe, die so dunkel und trostlos begonnen hatte, erwartet mich nach 90 Stufen eine Skulptur in Form eines Baumes, aus weißem Holz gefertigt und behängt mit tausend grünen Blättern, auf denen Wünsche der Hoffnung geschrieben stehen. Ein Lichtblick, Leichtigkeit, Schönheit. Ich ergänze auf einem weiteren Blatt der Hoffnung: „Frieden – innerlich und äußerlich“, reihe das Blatt in das strukturierte Gewirr vorhandener Zettel ein, mache ein Foto und gehe weiter. Ich bin gespannt, was mich hier oben noch so erwartet. Bald habe ich die Orientierung zwischen all den Wänden und Winkeln verloren, sodass es mir schwer fällt, den Audioguide weiter zu benutzen. Dieses Gefühl der Orientierungslosigkeit sei gewollt, so hatte er mir zuvor schon einmal gesagt. Ich streife Ausstellungsstücke, bleibe hier und da stehen, lasse mich inspirieren, lese Geschichten, höre jüdische Klänge. Dann komme ich in einen Saal, an dem zwischen anderen Ausstellungsstücken aneinandergereiht unzählige Gesetze gegen die Juden hängen. Ich fühle mich überfordert, kann das nicht alles lesen und nach zwei Drittel des Raumes begreife ich es endlich, dass auch dieses Gefühl gewollt ist, herausgefordert wird. Also gehe ich zurück, an den Anfang, suche die Erklärung an der Wand, die ich vorhin mit den Augen nur gestreift hatte, weil mein Blick schon auf die unzähligen Gesetze gerichtet war und auf den Gedanken, dass ich das nie im Leben alles an diesem einen Morgen schaffen kann, der mir zur Verfügung steht. Ich schaue nach der Zahl, anhand derer ich den Audioguide starten kann und Stimmen in meinen Ohren lesen verschiedene der Gesetze gegen die Juden vor. Die Enge und Beklemmung in mir kann ich nun benennen und dadurch besser mit ihr umgehen. Wieder bin ich beeindruckt, wie ganzheitlich dieses Museum konzipiert wurde und auf wie vielen Ebenen es mich anspricht. Erst dann kommt der Hinweis: „Sie haben nun die Hälfte der Ausstellung gesehen. Machen Sie mal eine Pause, setzen Sie sich hin.“ Beim Blick auf die Uhr weiß ich, dass ich für den Rest der Ausstellung nur noch manches anschauen kann. Mein Kopf ist aber sowieso voll und wirklich aufnahmefähig bin ich auch nicht mehr.
Unruhe
Irgendwann sehe ich dann ein Gemälde eines alten jüdischen Mannes, der als Kind im KZ gewesen war. 16 Sitzungen habe der Maler gebraucht. Der alte Mann habe nicht still sitzen können, sei unruhig gewesen. Die Unruhe kommt auch in dem Gemälde rüber. Auch das fotografiere ich, als Erinnerung daran, wie sich Vergangenheit in Gesichtern niederschlägt, als Erinnerung daran, dass unsere Taten Folgen haben, als Erinnerung daran, dass es wertvoll ist, auch das festzuhalten.
„Danke“
Als ich das Museum verlasse, bin ich auf eine Weise tief beglückt. Es war so bewegend und ich habe so viel gelernt, das über das Intellektuelle hinausgeht. Der Museumswärter, der mich zuvor schon so freundlich eingewiesen hatte, verabschiedet mich, schaut auf die Bücher in meiner Hand, die ich für meine Kinder gekauft habe, und spricht noch ein paar Sätze mit mir. Es tut gut, jemandem „Danke“ für dieses besondere Erlebnis sagen zu können. Es ist so wertvoll, sich gesehen und gehört zu fühlen, ein Gegenüber zu haben.
Langsam komme ich wieder im Hier und Jetzt an, gehe weiter zur U-Bahn, mache einen kurzen Abstecher zum Kulturkaufhaus Dussmann, den ich direkt wieder bereue, weil ich durch Schusseligkeit und Orientierungslosigkeit letztendlich 30 Minuten zu spät zum Treffen mit meinem Schwager und Helena komme. Trotzdem: Die Gespräche sind gut, der Haferkakao schön warm und süß und der Bagel der leckerste, den ich seit langem gegessen habe.
Ein bisschen eingefroren verlasse ich die heile Welt des Prenzlauer Bergs und fahre zum Geburtstag meiner Freundin nach Neukölln. Erst als ich aussteige, realisiere ich, dass ich abends tatsächlich noch alleine in der Dunkelheit durch Berlin würde fahren müssen. Ich schiebe den Gedanken beiseite, denke daran, dass das tausende Frauen jeden Abend schaffen und suche die Location.
Neukölln
Dort angekommen begrüßt Doro mich liebevoll, erklärt mir alles und ich mache mir einen Tee. Irgendwas stimmte mit der Kaffeemaschine nicht, wodurch der ganze Boden bekleckert war und ein Freund von Doro, der wie sich später herausstellte, Richter in München ist, darum bemüht war, das Dilemma zu beseitigen. Ich helfe mit und setze mich an seinen Tisch. Dort lerne ich dann einige der Leute kennen, die Doro bei ihren diversen Aufenthalten in den unterschiedlichsten europäischen Städten kennengelernt hatte. Alle waren sie nun nach Berlin gekommen. Das beeindruckte mich. Ich lernte Helen kennen, die kommunalpolitisch aktiv ist, seit sie eine kleine Tochter hat und für die Möglichkeit wirbt, dass Mütter überhaupt politisch aktiv sein können. Dann Sarah, die beim Sozialministerium in München ansässig ist und ihren Freund, der als Ingenieur bei einer Pflegehochschule arbeitet, und es gleichzeitig gruselig und faszinierend findet, dass sie dort nun ein Gerät haben, an dem die Student*innen das Sezieren an digitalen Modellen, die mit Daten echter Leichen gefüttert wurden, lernen können. Es ist ein schöner Abend. Ein schöner Tag. Den Rückweg schaffe ich auch noch – Gott sei Dank. Und das, obwohl der Akku meines Handys leer ist und auf den Straßen Neuköllns gerade eine Pro-Palästinensische Demo stattfindet, was die Lage dieser Tage angespannt werden lässt – selbst hier in Berlin, 4000km entfernt vom Gaza-Streifen. Zu wissen, dass jemand auf mich wartet, hilft.
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