Nach dem 07. Oktober ’23 war ich in Berlin. Ziemlich direkt danach. Es war ein besonderes Erlebnis, an dem ich dich gerne teilhaben lassen würde. Ich habe jeden Tag ein paar Gedanken aufgeschrieben. Heute kommt der erste Eintrag. Eine wichtige Vorbemerkung: In diesen Tagen stand die Trauer und der Schrecken über das, was die Hamas in Israel getan haben, ganz oben. Heute sehe ich in Israel auch ein Land, das Menschenrechtsverletzungen verübt. Aber dennoch bleiben Trauer und Schrecken über das, was ihnen angetan wird.
Tagebucheintrag vom 04.11.23 in Berlin
Angekommen
Irgendwie erholt steige ich aus dem ICE aus. Die fünf Stunden sind schnell vergangen. Essen, Arbeit, Träumen. Und einige Aufgaben, die ich eigentlich erledigen wollte, sind noch übrig. Den Koffer in der Hand und den Rucksack auf dem Rücken suche ich die Schließfächer. Einige Abbiegungen und Treppen später finde ich sie: „Mist, man braucht zwei Euro Münzen. Nicht mehr oder weniger.“ Als ich schon umkehren will, sehe ich einen Geldwechsel-Automaten. „Gott sei Dank!“, denke ich mit dem schweren Koffer in der Hand. Aber irgendwie bekomme ich keine zwei Euro-Münze aus diesem Gerät heraus und entschließe mich, den Koffer einfach mit auf meine erste Erkundungstour durch Berlin zu nehmen. Während ich auf den Zug gewartet hatte, hatte ich mir die Tipps meiner Freundin angehört und so folgte ich recht zielstrebig den Schildern, die zum „Futurium“ wiesen. Ich roch Berliner Luft, sah die ersten Gebäude. Es stank. „Das ist die AFD, die in der Nähe ihre Gebäude hat“, klärte mich Philipp später mit einem Lächeln auf dem Gesicht auf. Dann kam ich an einer Person, eingehüllt in einen Schlafsack, vorbei, nichts zu erkennen außer der Silhouette ihres Körpers. Ich atmete tief ein, fragte mich, was wohl dazu geführt haben musste, dass diese Person hier nun in der Kälte, am hellichten Tag, eingeschlossen im Schlafsack und gleichzeitig so schutzlos ausgeliefert in der Bushaltestelle lag. Ich ging weiter, ein leises Gebet auf den Lippen und die Erkenntnis, dass ich wohl noch so einiges sehen würde, an dem ich – zumindest momentan – nichts ändern kann.
Futurium
Im Futurium angekommen, konnte ich mich zunächst einmal meines schweren Gepäcks entledigen. Das tat gut. Die hohen Decken, großen Fenster und das Fehlen des Gepäcks ließen mich Freiheit erleben. Da war es fast schon unpassend, als eine Stunde später meine Familie anrief. Aber zunächst einmal genoss ich die Weite und fragte mich, wie es möglich war, dass der Besuch eines solchen Prachtstückes kostenlos sein konnte. Ich fand bald die Ausstellung und vertiefte mich in manche Themen. Andere ließ ich links liegen. So viele Informationen, zu viel, für einen kurzen Besuch auf der Durchreise. Viel Kunst. Dort blieb ich stehen und genoss. Das war auch ein Grund, warum ich hergekommen war. Ich wollte mich mit Kunst beschäftigen. Das war mir zu Beginn noch gar nicht so klar gewesen. Aber in all den schönen Texten und Ideen, die mir über diese Welt und ihre Zukunft zur Verfügung standen, fand ich keine Ruhe. Mit vielem davon hatte ich mich zuhause auf der Couch auseinandergesetzt. Aber hier, wo ich dazu die Kunst sehen, fühlen, erleben konnte, da kam ich zur Ruhe. Fand Ausdruck für meine Gedanken und meine Gedanken wurden bereichert von dem, was ich sah.
Gebäude
Irgendwann, etwa 50 Minuten später, hatte ich genug Energie getankt und wollte mehr von der Stadt sehen. So lief ich weiter, durch das Regierungsviertel. Sah Büros und Besprechungszimmer, die ich sonst nur aus den Nachrichten kannte, lief am Reichstagsgebäude entlang, hin zum Brandenburger Tor. Dort eine kleine Demo, der niemand weiter Beachtung schenkte, während fleißig Selfies mit dem Brandenburger Tor gemacht wurden und ich mittendrin, selfiemachend.
Ich las ein bisschen zur Geschichte des Tors, stellte mir vor, wie es nach dem Krieg zwischen den Staaten gestanden haben muss und welch ein Fest der Mauerfall dort gewesen sein musste. Etwas weiter unten las ich von der Quadriga, die erst später auf das Tor gestellt wurde und fragte mich, wie die Menschen das damals ohne Kran wohl hinbekommen haben. Ich fasste die alten Säulen an, etwas höher als ich es natürlicherweise gemacht hätte, um nicht allzu viele Viren abzugreifen und war da.
Holocaust Mahnmal
Es dämmerte bereits und so ging ich weiter zum Mahnmal für die ermordeten Juden. Das Setting war anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Mitten im Block war diese Beton-Quader-Fläche. Zunächst fragte ich mich, wie man hier zwischen Verkehr und Touris wohl gedenken kann. Wie man hier Ruhe findet. Doch auch an dieser Stelle wurde ich überrascht. Den Koffer nun nicht mehr polternd hinter mir her ziehend, sondern tragend, lief ich hinein und tauchte ab. Sah nur noch Blöcke und vereinzelte Menschen, bog mehrmals ab und war alleine, umgeben von Betonquadern, alle unterschiedlich, bedrückend. So eine geordnete Dunkelheit mitten im Berliner Stadtleben. Und nachdem ich schon hundert Bilder davon gesehen hatte, so verstand ich es zum ersten Mal. Auch die Shoa geschah geordnet, sehr geordnet. Auch die Shoa geschah unter den Blicken der Restbevölkerung. Auch die Shoa muss von außen irgendwie merkwürdig kalt und dunkel gewirkt haben. Aber auch der Schrecken der Shoa muss umso dunkler und allumfassender gewesen sein, je tiefer man betroffen war. Also schickte ich wieder ein Gebet zum Himmel. Ein „es tut mir so Leid“ und ein „Wie kann es Frieden auf dieser Welt, Frieden in Israel und Palästina geben?“ und ein „Ich will vertrauen, dass du alles im Griff hast. So nimm es und wirke Frieden.“
Langsam verabschiede ich mich von dem Platz, bemerke einen Rosenstrauch, an dem die letzten Rosen gerade verdorren. Sehe wunderschöne Bäume am Rande des Mahnmals, die den Blick einzurahmen scheinen. Ich mache noch Fotos, teile sie mit der Welt und suche die Straßenbahn.
Zu Gast
Es tut gut, bei Helena und Philipp anzukommen. Jetzt nicht alleine in ein Hotelzimmer zu gehen, sondern mit großer Gastfreundschaft empfangen zu werden, gemeinsam zu essen, zu reden und zu rätseln. Ich versuche, nicht zu viele Umstände zu machen. Versuche zu lernen, auch dann anzunehmen, was ich geschenkt bekomme, wenn ich nichts zum Geben habe.
Heute steht ein neuer Tag an. Im Schneckentempo ziehe ich mich an, schminke mich sogar, lese ein bisschen, bis ich merke: Was gerade dran ist, ist das Schreiben.
Reflektieren
Ich hatte mich auf das Wochenende gefreut. Zwischen all der Hektik der letzten Tage zwischen Auszug unserer Nachbarn, Übergabe der Wohnung, Umbaumaßnahmen im Haus und dem Einzug der neuen Familie nächste Woche hatte ich mich darauf gefreut, alleine zu sein. Im Zug mit niemandem reden zu müssen, bei mir selbst sein zu können. Für die Zeit hier in Berlin hatte ich mir vorgenommen, mir keinen Stress zu machen, langsam zu gehen. Nicht zu viel zu wollen, sondern zu genießen. Ich glaube, ich bin auf einem guten Weg. Und ich glaube, ich werde gestärkt zurückkommen.
In den Straßen des Berliner Regierungsviertels habe ich mich eingereiht gefühlt in die Geschichte unseres Landes, habe mich stärker als Teil der Deutschen Geschichte gefühlt. Habe mich gefragt, ob unser Leben auf dem Land nicht eigentlich ebenso bedeutsam sein müsste. Habe gedacht: „Ja, auf jeden Fall – für die Nachkommen, die Region, die Struktur“ und habe gleichzeitig gedacht: „Nein, weil sich hier nicht für die großen Themen interessiert wurde, sondern für die Kleinen. Aber: das war ja auch nicht ihre Aufgabe. Und: Bedeutend für die Gesellschaft sind beide, doch erinnernswert scheinen nur die einen zu sein.“
Hier geht’s zum zweiten Teil.
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