Bonhoeffers „von guten Mächten“ und ich

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Kennst du das Lied „Von guten Mächten“ von Dietrich Bonhoeffer? Es wird oft rund um Weihnachten und den Jahreswechsel gesungen, aber auch auf Beerdigungen. Dietrich Bonhoeffer, ein bedeutender Theologe und Führungsperson im kirchlichen Widerstand während der NS-Zeit, hat es aus dem Gefängnis heraus geschrieben. Bis heute berührt es, fordert heraus und gibt Trost in schweren Zeiten.

Diagnose: Krebs

Ein halbes Jahr, nachdem ich bei Oma und Opa in die Dachwohnung gezogen bin, wurde mein Opa krank. Im September war es noch eine schwere Erkältung, im Dezember war es Diagnose: Bauchspeicheldrüsenkrebs. Nichts zu machen, die Form von Krebs, bei der es eigentlich keine Hoffnung gibt. Eine OP sollte gemacht werden, damit es ihm zumindest für einige Zeit noch besser gehen sollte

Mein Opa war ein Mann, der zwei linke Hände hatte, aber sehr gut war mit Anträgen und in Diskussionen. Er hat in seinem Leben vermutlich tausende Brote gebacken, trank gefühlt einen Liter Milch am Tag und er hat gemeinsam mit Oma die besten Tomaten der Welt angebaut. Er war lange Zeit im Kirchenvorstand und hat seinen Dienst sehr ernst genommen.

Galgenhumor

Nun lag er im Krankenhaus, war nach der OP noch einige Tage im Koma, hatte gekämpft und wurde dann ins Leben zurück geholt. Dabei hatte er vorher ganz klar gesagt, dass er diese ganzen Maßnahmen nicht mehr haben wollte (er war etwas über 70). Meine Oma und Onkels hatten es aber nicht übers Herz gebracht, ihn so unerwartet sterben zu lassen, wo es doch durch all die Geräte auf der Intensivstation noch Hoffnung gab.

Nach etlichen Tagen des Kämpfens ist er aufgewacht. Ich hatte das Glück und durfte ihn nur wenige Stunden später besuchen, weil wir meine Oma oft ins Krankenhaus gebracht haben und von dort weiter zur Uni gefahren sind. Eines seiner ersten Worte, das war typisch Opa, war „assa“. Wir haben nicht verstanden, was er von uns wollte, bis er sagte „Aqua“. Wir gaben ihm das gewünschte Wasser und als die Lippen, die seit Tagen von der Luft weiter ausgetrocknet worden waren, endlich wieder Flüssigkeit bekamen, schimpfte er mit einem Lächeln im Gesicht: „Muss man hier schon Latein reden, damit ihr mich versteht!?!“ So war er.

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Von guten Mächten

Wieder ein paar Tage später war ich auf einer Silvesterfreizeit als Mitarbeiterin. Unser Leiter sprach an Silvester über das Lied „Von guten Mächten“. Er erzählte von einem besonderen Erlebnis, das er mit diesem Lied hatte und davon, dass es ihm geholfen hat, mit dem Tod seines Vaters fertig zu werden. Wir sangen:

Von guten Mächten treu und still umgeben,
behütet und getröstet wunderbar,
so will ich diese Tage mit euch leben
und mit euch gehen in ein neues Jahr.

Noch will das alte unsre Herzen quälen,
noch drückt uns böser Tage schwere Last.
Ach Herr, gib unsern aufgeschreckten Seelen
das Heil, für das du uns geschaffen hast.

Und reichst du uns den schweren Kelch, den bittern
des Leids, gefüllt bis an den höchsten Rand,
so nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern
aus deiner guten und geliebten Hand. (…)

Text: Dietrich Bonhoeffer (1944) 1945/1951

Ich sang mit und wusste, dass mein Opa noch in diesen Tagen schwer zu kämpfen hatte. Der erste Berg war geschafft, aber es war schon klar: Der nächste würde kommen und ihm würden nicht mehr viele Monate zu leben bleiben. Seit der Diagnose fragte ich mich, wozu das alles. Warum musste sich Opa so quälen? Warum?

Dankbar ohne Zittern? Bitte was?

„Und reichst du uns den schweren Kelch, den bittern, des Leids gefüllt bis an den höchsten Rand, so nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern aus deiner guten und geliebten Hand.“

Wie kann ein Mensch sowas ernst meinen? Wie kann jemand im Angesicht des Todes so ein Lied schreiben? Wie kann man es mitsingen und es wirklich ernst meinen? Alles in mir ruft doch: Nein, ich will nicht leiden. Ich will nicht, dass meine Familie leiden muss. Ich will, dass es uns allen gut geht. Und dann auch noch ohne Zittern, fest entschlossen?!?

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Die Hand, die gibt, ist gut und sie ist liebend. Selbst, wenn sie mir das Schwere, das Unsagbare, das Leidvolle überreicht. Das ist das, woran sich Bonhoeffer, woran ich mich festgeklammert habe. Okay, Herr, du weißt, wie es weitergeht. Du weißt, wie viele Schmerzen noch kommen werden. Her mit dem Becher.

Meine Aufgewühltsein, mein Fragen, mein Warum, mein „das kann doch nicht dein Ernst sein, Gott!“, wurden ruhig. Tiefer Friede ist eingezogen in meinem Herzen, als ich diese Sätze mit gebetet habe. Gottes Hand ist eine liebende Hand. Ich will nehmen, was sie mir gibt und darauf vertrauen, dass Gott es gut mit mir meint, auch, wenn es gerade weh tut. Dass ich diesen Becher „dankbar“ und „ohne Zittern“ entgegennehme, das werde ich aber wohl erst noch lernen müssen.

Tod.

Ein paar Monate später ist mein Opa gestorben. Er hat trotz all der Schmerzen viel gelächelt und sehr viele Gespräche geführt mit Leuten, die ihm wichtig waren. Am Tag vor seinem Tod war ich an seinem Bett und habe gesagt, dass er jetzt gehen kann, dass es jetzt okay ist. Als ob er meine Erlaubnis gebraucht hätte. Er hat da nicht mehr geantwortet, aber man hat gespürt, dass er manches noch mitbekommt. Es war ein heißer Sommertag und wir haben draußen vor dem Fenster gegrillt. Wir waren bei ihm, aber haben ihn auch in Ruhe gehen lassen. Endlich.

Freude?

Bei seiner Beerdigung habe ich Klavier gespielt und auch wieder dieses Lied: Von guten Mächten. Beim Üben habe ich weinend mitgesungen und bin hängen geblieben an der dritten Strophe:

„Doch willst du uns noch einmal Freude schenken
an dieser Welt und ihrer Sonne Glanz,
dann wolln wir des Vergangenen gedenken,
und dann gehört dir unser Leben ganz.“

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Seit Opas Tod sind unglaublich viele wunderschöne Dinge passiert. Aber diese Strophe erinnert mich daran: Ich will nicht vergessen, wie Gott meinen Opa hindurch getragen hat, durch diese Zeit. Ich will nicht vergessen, sondern mich daran erinnern, dass er in diesen letzten Monaten ein Licht für viele Menschen war. Er hat für Frieden gesorgt, er hat Schmerzliches angesprochen, hat Dinge geklärt, hat ermutigt und er hat lächelnd den wunderschönen blühenden Garten genossen, in dem so viele Erinnerungen steckten. Ich will auch nicht vergessen, wie Gott mich, wie er unsere Familie in dieser Zeit getragen hat, wie er auch uns Kraft und Zusammenhalt geschenkt hat, wie er Hilfe in den Momenten, wo sie notwendig war, geschickt hat. Es ist erstaunlich, dass Bonhoeffer in seiner dunklen Kammer diesen Hoffnungsschimmer hatte und die Perspektive eines dankbaren „Danachs“ einbezogen hat.

Und dann gehört dir, Gott, mein Leben ganz. Du hältst es in deiner Hand und ich will darauf vertrauen, dass du es gut mit mir meinst. Und in das, was da noch kommen wird, will ich gehen in dem Wissen: Ich bin

„Von guten Mächten treu und still umgeben,

behütet und getröstet wunderbar.

Gott ist mit uns am Abend und am Morgen

und ganz gewiss an jedem neuen Tag“

Heil

Und dann ist mein Gebet auch in dieser Zeit, 2022, die für uns alle gerade nicht immer so leicht ist:

„Ach Herr, gib unsern aufgeschreckten Seelen
das Heil, für das du uns geschaffen hast.“

Gott hat uns erschaffen, um heil zu sein. Vollständig, ganz, in Frieden, mit verbundenen Wunden, eingewickelt in Verbände mit heilender Salbe. Ich glaube, spätestens bei unserem Tod wird Jesus sich noch mal all die schmerzvollen Momente mit mir anschauen. Ein allerletztes Mal. Ich werde dabei entdecken, dass Gott immer ganz in meiner Nähe war und dass er dafür gesorgt hat, dass es nicht mehr wird, als ich (er-)tragen kann. Dann wird er mit mir weinen und ein letztes Mal die Tränen abwischen, bevor wir über die goldenen Pflastersteine im Himmel laufen, zur großen Party. Und da werde ich dann all die Lieben sehen, die schon vorausgegangen sind.

<3

 

Zum Weiterlesen:

Vermutlich hatte Dietrich Bonhoeffer unter anderem diese Verse aus dem zweiten Brief an die Korinther aus der Bibel im Kopf, als er die Zeilen zu „Von guten Mächten“ schrieb:

3Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus! Er ist der Vater, der uns Barmherzigkeit schenkt, und der Gott, bei dem wir Ermutigung finden.4Er ermutigt uns in all unserer Not. Und so können auch wir anderen Menschen in ihrer Not Mut machen. Wir selbst haben ja ebenso durch Gott Ermutigung erfahren.5Allerdings wird auch uns in reichem Maß das Leid zuteil, das Christus erlebt hat. Aber genauso erfahren wir in reichem Maß auch die Ermutigung, die er schenkt.

6Wenn wir in Not geraten, sollt ihr dadurch ermutigt und gerettet werdet. Wenn wir ermutigt werden, sollt ihr dadurch neuen Mut schöpfen. So könnt ihr geduldig dieselben Leiden ertragen, die auch wir ertragen müssen.7Wenn wir an euch denken, sind wir sehr zuversichtlich. Denn wir wissen, dass ihr ebenso wie an dem Leiden auch an der Ermutigung Anteil habt.

8Wir wollen euch nämlich eines nicht verschweigen, Brüder und Schwestern: In der Provinz Asia sind wir wirklich in eine schwierige Lage geraten. Was wir da ertragen mussten, überstieg unsere Kräfte. Wir bezweifelten, überhaupt mit dem Leben davonzukommen.9Und wir dachten schon, das Todesurteil wäre über uns gesprochen. Wir sollten aber lernen, nicht auf uns selbst zu vertrauen. Auf Gott sollten wir vertrauen, der die Toten auferweckt.10Er hat uns vor dem sicheren Tod gerettet und wird es wieder tun. Auf ihn setzen wir unsere Hoffnung, dass er uns auch in Zukunft retten wird.11Auch ihr sollt dabei mithelfen, indem ihr für uns betet. Denn aus dem Munde vieler Menschensoll ein vielstimmiges Dankgebet erklingen. Es ist der Dank für die Gnade, die Gott uns erwiesen hat.

(2. Kor 1,3-11)

 

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